Von Spürnasen und Detektiven –
die Geschichte des Heimatarchivs
Helia Sauerwein schlüpft mit ihren Fingern in weiße Baumwollhandschuhe, routiniert, so wie sie das schon tausend Mal gemacht hat. Sie geht an einem langen Regal entlang, in dem sich dutzende, bunte Buchrücken aneinanderreihen. Ihre Augen suchen etwas Bestimmtes, ihre Finger gleiten über die Bücher. Schließlich holt sie ein historisches Fotoalbum hervor. Gut 100 Jahre alt, eingebunden in rotem Samt, mit goldenem Blumenschmuck auf dem Deckel. „Das Album zeigt Fotos aus einer Schwarmstedter Kaufmannsfamilie“, sagt Helia Sauerwein. „Aus den Anfängen der Fotografie.“ Auf den Schwarzweiß-Bildern sind gut gekleidete Herren zu sehen, mit gepflegten Bärten und stolzem Blick. Und Kinder, herausgeputzt für den Augenblick, die etwas unsicher in die Kamera schauen. Familienbilder aus dem Schwarmstedt der Jahrhundertwende. Unbezahlbar.
Das alte Fotoalbum ist eines von unzähligen Schmuckstücken, die Helia Sauerwein und ihre Mitstreiter hüten. Die Anfänge des Archivs reichen bis die 80er-Jahre zurück: Helias verstorbener Ehemann Ernst Sauerwein sammelt damals zuhause, alles, was ihm in die Finger kommt: Unterlagen, Fotos, Erbschaftsverträge, Gerichtsakten, Rechnungen. Hobby-Historiker Sauerwein rettet das Material vor dem Altpapier oder dem Sperrmüll. „Wann immer er von Alteingesessenen angesprochen wird, man habe da noch alte Papiere liegen, ist er zur Stelle, um zu sichten und sichern“, erinnert sich Pastor Jörn Kremeike in seiner Predigt zum Tod Ernst Sauerweins im Jahr 2015.
1996 geht Sauerwein den entscheidenden Schritt: unter dem Dach des Uhle-Hof-Vereins gründet er das Heimatarchiv. Die Samtgemeinde stellt dem Team um Sauerwein das frisch ausgebaute Dachgeschoss der alten Schule am Mühlenweg zur Verfügung. „Ortsgeschichte in der Dachkammer“, schreibt damals die Walsroder Zeitung. Und Ernst Sauerwein steht am Eröffnungstag von morgens bis abends im Archiv und weiht Besucher in die Geheimnisse der Lokalgeschichte ein – er erzählt von Bauernhöfen und Bahnarbeitern, von der ersten Sparkasse oder dem Schulmeister. Und obwohl sich schon damals die Regale fast biegen, sagt Ernst Sauerwein: „Wir brauchen noch jede Menge. Bisher sind das alles nur kleine Mosaikstücke.“ Sauerwein will in Broschüren über das Geschehen in den Orten unserer Samtgemeinde berichten – in einfacher Sprache, für alle verständlich. Er verweist auf das im Jahr 1988 erschienene Werk des Schwarmstedter Chronisten Werner Brünecke. Dieser hat in wissenschaftlicher Ausarbeitung die Chronik „Dorf und Kirchspiel Schwarmstedt. Die alte Amtsvogtei Essel" der Nachwelt hinterlassen.
Das Archivieren und Sortieren steht Mitte der 90er-Jahre noch nicht im Vordergrund. „Mein Mann war ein leidenschaftlicher Sammler, aber kein Archivar“, sagt Helia Sauerwein heute. „Er hat alles in sich aufgesogen, dann ist vieles in Kisten und Ordner gewandert.“ Ernst Sauerwein organisiert damals Vorträge und Ausflüge zu historisch interessanten Orten, das systematische Ablegen und Archivieren der mehreren tausend Sammelstücke soll erst viel später beginnen. Die WZ schreibt zur Eröffnung des Archivs: „Inmitten der alten Dokumente fühlt sich Sauerwein pudelwohl.“
Heute, mehr als 25 Jahre später, fühlen sich die Ehrenamtlichen des Heimatarchivs im Werkstatthaus auf dem Uhle-Hof pudelwohl – und inzwischen haben die gut zwölf Helfer die nächste Phase eingeläutet. Heute wird das Material sortiert, eingeordnet, beschrieben, mit Schlagwörtern versehen und in Aufbewahrungsboxen abgelegt. Die Samtgemeinde hat das spezielle Computerprogramm fürs Archivieren angeschafft, das Staatsarchiv in Hannover hat wichtige Hinweise zum Vorgehen gegeben.
Karin Mußmann sitzt konzentriert an ihrem Laptop und schreibt Stichwörter und Daten zu historischen Handwerkerrechnungen ins System. Ihre Finger huschen über die Tastatur, ihr Blick wechselt zwischen Bildschirm und den vergilbten Dokumenten vor ihr. Mußmann schaut kurz hoch: „An die hundert Dokumente hab‘ ich schon mit Schlagworten versehen. Da kommt was zusammen.“ Anhand dieser Schlagworte lassen sich die Dokumente später wiederfinden. Gleich nebenan arbeitet Herbert Harmrolfs. Er ist für die Technik und das Scannen der historischen Fotos verantwortlich. Er ist kein gebürtiger Schwarmstedter – die Geschichte dieses Ortes fasziniert ihn dennoch. Inzwischen ist er tief in die Historie der Samtgemeinde eingetaucht. „Die Neugier ist unser Antrieb“, sagt Harmrolfs. „Und ich denke, dass wir der Nachwelt einen Gefallen tun.“
Der Anfang ist gemacht, aber die große Masse kommt noch: Schätzungsweise zehn Prozent des Archivbestands sind bis heute eingeordnet und digitalisiert. Kirche, Dörfer, Landwirtschaft, NS-Zeit – die Schwarmstedter Geschichte lagert feinsäuberlich sortiert und mit Schlagworten versehen in grauen Pappkartons. „Das Produkt, das jetzt entsteht, das erfüllt einen“, sagt Helia Sauerwein. „Wir machen es möglich, dass andere Menschen daraus schöpfen können. Das ist etwas Großartiges.“ Es ist eine Arbeit, die nie zu Ende ist.